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Der Mann ohne Geburtstag

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zwischenhimmelunderd's avatar
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Es ist entschieden: ich werde wieder hingehen, zu dem Mann ohne Geburtstag.

Gleich zu Beginn meiner journalistischen Laufbahn war es. Oder vielmehr: wäre es gewesen, wenn es eine journalistische Laufbahn gegeben hätte. Oder jedenfalls wahrscheinlich wäre es gewesen. Denn ich hätte ziemlich bald ziemlich anspruchsvolle Artikel geschrieben, vermute ich mal…

Oder wenn nicht, dann eben später. Auf alle Fälle wäre eines Tages die Kolumne "Menschen und Zeitzeugen", oder "Länder und Abenteuer", oder "Menschen und Länder", oder "Zeitzeugen und Abenteuer", oder …. Aber ich glaube es wird deutlich, was ich meine. Also eine solche Kolumne wäre mir angetragen worden, wo ich echt fetzige Dinge erlebt und mit interessanten Interessen und deren Interessenten zu tun gehabt hätte.

Ich wäre viel durch die Lande gereist, und irgendwo in Ost-West- oder Nord-Südafri- oder -merika oder auch ganz woanders hätte ich ihn angetroffen. Die Leute dort hätten – soweit ich verstanden hätte – gesagt, er sei "schon immer" da gewesen und schon ihre Großeltern wären zu ihm gegangen und hätten ihn um Rat gefragt. Schon damals wäre er von undefinierbarem Alter gewesen, hätte – dem Vernehmen nach – genauso alt ausgesehen wie jetzt und behauptet, den Tag seiner Geburt nicht zu kennen.

Ich hätte ihn aufgesucht, diesen rätslhaften Menschen und befragt – vorausgesetzt, wir hätten eine gemeinsame Sprache gefunden. (Wenn nicht, wäre diese Geschichte hier bereits zu Ende, und das würde uns viel Mühe sparen, lieber Leser, Dir und mir :roll: )

Aber nehmen wir einfach mal an, der Mann ohne Geburtstag und ich, wir hätten uns gegenseitig verständlich machen können. Dann hätte ich ihn gefragt wie alt er sei, und er hätte entgegnet, vermutlich jedenfalls, dass er auch schon originellere Fragen gestellt bekommen hätte und vor allem welche, über die es sich eher gelohnt hat nachzudenken und eine Antwort zu finden. Trotzdem: ich hätte ihm sicher nahe bringen können, dass das der sogenannte "small-talk" sei und das Eis wäre gebrochen gewesen.

Ich hätte ihm meine Profession als Journalist vorgestellt und er mir die Seine als Mensch, und die erneut wenig originelle Frage, wie er es gemacht hat so alt zu werden (und noch dazu ohne zu wissen WIE alt) hätte er mir ebenfalls nicht beantwortet.

Okay, hier hätte ich angefangen frustriert zu sein (natürlich nur damals, aber das meine ich jetzt ironisch). Und er hätte mir ungerührt davon berichtet, dass er seinen Geburtstag noch nie gewusst habe. Es habe ihn auch nicht interessiert. Schon seine Eltern (die ihn sicher gewusst, aber für sich behalten hätten) seien auf dem Standpunkt gestanden, es wäre doch ganz und gar traurig, lediglich einmal im Jahr zu feiern, dass man am Leben sei. Selbst wenn durch irgendeine Katastrophe, die man später vielleicht das Glück gehabt haben würde, sie zu überleben (hier wird es grammatikalisch etwas unübersichtlich – auch wegen der Illusion eines linearen Verlaufs der Zeit)… Also selbst, wenn mensch "einen zweiten Geburtstag feiern" könnte – wie man so sagt, wenn eine Katastrophe überlebt worden ist – dann wären das immer noch lächerlich wenige – nämlich erst zwei – Festtage im Jahr, wo das Jahr doch 365 Tage hat (und manchmal sogar 366 – ebenfalls wegen der Illusion eines linearen Verlaufs der Zeit).

Mit meinem Einwand, dass es ja auch noch andere Feier- und Festtage gibt (kirchliche, weltliche, Hochzeiten, Beerdigungen usw.), wäre ich bei ihm bestimmt nicht durchgekommen, denn er hätte – und heute gebe ich ihm darin in weiten Teilen recht – behauptet, es sei doch viel effizienter, JEDEN Tag feierlich zu begehen. Mit knapper Geste hätte er dabei vielleicht auf die ihn umgebenden Blumenstäuße und Girlanden gedeutet und weiter erläutert, ob mensch das dann Geburtstag nenne oder anders sei nicht so ausschlaggebend, aber immerhin sei die eigene Geburt etwas, das ihn immer wenn er beispielsweise aufwache, oder einschlafe mit Dankbarkeit erfülle. Und dabei sei noch völlig ungeklärt, welcher der beiden Vorgänge welchen Sachverhalt beschreibe…

"Aber das führt hier zu weit.", hätte er – meiner Zwischenfrage zuvorkommend – bestimmt behauptet, und mich statt dessen davon in Kenntnis gesetzt, dass es im Grunde ganz unwichtig sei zu wissen, WANN mensch geboren wurde. Viel wichtiger sei es doch zu wissen, DASS mensch (noch dazu als ein solcher) geboren worden wäre, und – die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen. So was hätte mich dann natürlich wieder neugierig gemacht und ganz im Sinne des (von mir sicher vertretenen) Berufsethos' eines investigativen Journalismus hätte ich sofort nachgehakt, was er denn mit diesen "richtigen Konsequenzen" im Zusammenhang mit der Menschwerdung so gemeint haben könnte.

Bestimmt hätte er dann irgendwie etwas in seinen Bart… erwähnte ich, dass er selbstverständlich einen langen weissen Bart getragen hätte, wie er da so in perfekter Meditationshaltung vor mir gesessen hätte? Er hätte also in seinen Bart genuschelt, ich hätte was von "…Aufgabenstellung…" verstanden und reflexhaft meine Tonbandausrüstung überprüft – denn damals wäre ich noch mit Tonbandgeräten unterwegs gewesen. Und für meine Aufgabe hätte ich – ziemlich fälschlicher Weise – dieses Interview gehalten.

Da hätte er dann gelächelt, der Mann ohne Geburtstag – da bin ich mir fast ganz sicher, und nachsichtig das Gespräch in andere Bahnen gelenkt.

Ja – so wäre das gewesen. Oder zumindest hätte es so gewesen sein können – mit mir und dem Mann ohne Geburtstag. Aber das Leben findet nicht im Konjunktiv statt. Und deswegen (wie bereits eingangs erwähnt): ich bin unterwegs zu diesem Mann. Nach Nord-Süd- oder Ostwestafri- oder -merika, wo immer das in meiner Seele auch zu finden sein mag. Dort treffe ich ihn bestimmt noch an – undefinierbaren Alters – und wir werden ins Gespräch kommen.

Bestimmt.
:wizardhat:


:alien:
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